Kapitel 1 (Teil 1) „50.000 Euro, morgen 17:00 Uhr am Hauptbahnhof. Werfen Sie es in die Mülltonne vor dem Burger King.“ Kaum 20 Minuten waren vergangen, seit diese Worte ihren Weg in einen Telefonhörer gefunden hatten. An einem öffentlichen Telefon im Ostbahnhof, wie der Kommissar ihr mitgeteilt hatte. Sonja seufzte leise mit einem Blick auf ihre ledernen Winterhandschuhe. Sie wusste, dass ihr Kollege alles menschenmögliche versuchen würde, um den Apparat abzusperren, doch schon eine kurze Verzögerung bei der Bahnhofspolizei konnte die Spuren gefährden. Die schneebedeckten Gebäude Berlins zogen am Fenster des Polizeiwagens vorbei, mit dem die junge Sonderermittlerin zu eben jenem Bahnhof gefahren wurde. Nur wenige trauten sich, die glatten Gehwege zur Arbeit oder zum Supermarkt zu benutzen. So sah die Schneedecke in den Nebenstraßen noch nahezu unberührt aus, abgesehen von den Schuhabdrücken einiger Leute und den Reifen eines scheinbar todesmutigen Fahrradfahrers. Ungeduldig zupfte Sonja ihre eng zusammengebundenen blonden Haare zurecht. Gerne hätte Sonja dieser friedlichen, ruhigen Stadtlandschaft vertraut, doch sie wusste, dass in dieser riesigen Stadt eine junge Frau in den Händen eines skrupellosen Entführers als drittes Opfer nun darauf wartete, hoffte, dass ihre Eltern die Forderungen erfüllen konnten. Für das letzte Mädchen wäre es fast zu spät gewesen, nachdem sie nach drei Tagen völlig unterkühlt und ausgehungert aufgefunden wurde. Nach der Geldübergabe natürlich. Das Auto näherte sich seinem Ziel. Ein Parkplatz konnte Dank des Blaulichts schnell gefunden werden. Sonja löste den Gurt und stieg aus, sobald der Wagen zum Stillstand gekommen war. Kriminalhauptkommissar Langlo, ein hoch gewachsener Norweger mittleren Alters, wartete am Eingang bereits auf sie. „Guten Morgen, Frau Haas.“ Sie erwiderte den Gruß mit einem knappen „Hi Sigvard.“ Eilig betrat Sonja die Bahnhofshalle, die sie ähnlich grau und leer begrüßte wie die Straßen zuvor. Eine ältere Dame versuchte am Reisezentrum der Bahngesellschaft eine schnelle Verbindung nach Potsdam zu erfragen, während sich ein Mann mit Anzug und Aktentasche daneben völlig in einem belebten Telefongespräch verlor. Im Durchgang zu den Gleisen drängten sich verärgert ein Paar mit Kinderwagen an einer größeren Reisegruppe vorbei, die ihrerseits im Moment mit einem leicht hilflosen Blick kollektiv einen Faltplan studierte. Vor dem Kundenbüro in der oberen Etage verbrachte die übliche Schlange Schwarzfahrer ihren Vormittag. Zwei Beamte befragten die Teilnehmer dieser eigentümlichen Parade, die bis ans untere Ende der Rolltreppe anstanden, doch Sonja brauchte keine Superkräfte, um das Ergebnis vorherzusehen. Die Körpersprache der Polizisten war eindeutig. Mit einem Wink seiner rechten Hand schickte der Kommissar zwei weitere seiner Mitarbeiter zu der Reisegruppe, die ihren Weg gefunden zu haben schien und nun Gefahr lief, unauffindbar im Getümmel zu verschwinden. Trotz der geringen Aussicht auf Erfolg musste Langlo nach diesem Strohhalm greifen, denn außer diesen wenigen Leuten würden sie keine weiteren potenziellen Zeugen finden. Der Entführer wusste den Berufsverkehr und den Kaninchenblick der gehetzten Großstädter geschickt auszunutzen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Sonjas Magengegend breit, als sie die durch dünne Wände voneinander getrennten Telefone an der Wand erblickte. Inzwischen konnte man ihr die Nervosität, die sie zu jedem Auftrag begleitete, kaum noch anmerken. Doch sie wusste, dass auch ihre Anwesenheit nur einem Griff nach dem Strohhalm glich und mit jedem erfolgreichen Abschluss wuchs die Angst davor, einen fatalen Fehler zu begehen. „Es ist der zweite Apparat von links“, erklärte ein junger Polizist, den Sonja erst beim letzten Einsatz kennen gelernt hatte und der seinerseits anscheinend keine Zeit an eine Begrüßung verschwenden wollte. „Ein Mann in den Siebzigern führte nach dem Täter noch ein Gespräch mit seiner Apotheke“, fuhr er mit einem Blick auf den Notizblock fort, „aber er hatte den Hörer am unteren Ende in der Hand, also sollte er weiter oben nichts durcheinander gebracht haben.“